Grosswerder 1767

Geschichte Deutscher Aussiedler

In den Jahren 1764 bis 1770 gründeten 147 Kolonistenfamilien die sogenannte Belowescher Kolonie in der Belovezhskaya-Steppe in der heutigen Ukraine, die zuvor einem Kleinrussischen General (Kleinrusse = Ukrainer), einem Tataren abgekauft wurde. Die Familien stammten größtenteils aus Westfalen (27%), Preußen und Norddeutschland (18%), Hessen (17%) und Sachsen (13%). Die Mehrheit wurde an der Wolga angesiedelt. Einige Hundert Familien wurde auf einzelne neu gegründete Siedlungen in der Nähe der Hauptstadt St. Petersburg, in Livland, im Gouvernement Woronesch und in der heutigen Nordukraine verteilt.

Die Auswanderung begann 1763 auf die zweite Einladung, dem zweiten Manifest von Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, auch bekannt als „Katharina II“ oder „Katharine die Große“, der damaligen deutschen Zarin von Russland. Zunächst versammelten sich die Auswanderer im hessischen Büdingen, von da im Landmarsch ging es über Hannover und Hamburg nach Lübeck und weiter per Schiff nach Danzig und dann nach Oranienbaum (Lomonossow), Sankt Petersburg. Nach Registrierung wurden den deutschen Kolonisten Landstriche, überwiegend in südlichen Regionen Rußlands, zugewiesen.

Sammelstellen zur Auswanderung gab es in Ulm, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt, Roßlau/Elbe und insbesondere im hessischen Büdingen. Bild: Viktor Hurr.
Sammelstellen zur Auswanderung gab es in Ulm, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt, Roßlau/Elbe und insbesondere im hessischen Büdingen. Bild: Viktor Hurr.

Die Belowescher Kolonie lag im Gouvernement Tschernigow und bestand aus 6 Dörfern: Belowesch (e) (evangelisch, Gorodok (e), Rundewiese (e), Kaltschinowka (e), Groß-Werder (katholisch) und Klein-Werder (k). Laut Igor Plewe kamen die ersten Siedler zwischen 1765 und 1766 in die Belowescher Steppe an. Er nennt den März 1767 als Gründungsmonat der Belowescher Kolonie. Ein weiteres Dorf namens Kreschatten wurde 1779 gegründet und lag 80 Kilometer entfernt. Das Dorf Belowesch mit einer Kirche bildete das Zentrum der Belowescher Kolonie. Auch 150 Jahre später wurden wir – Nachkommen der Beloweschkolonie im Volksmund Pelmescher genannt. Diese Bezeichnung ist auf den Namen Belemösche zurückzuführen. So hieß eine alte Stadt auf dem Territorium der Kolonie (zur Zeit der Gründung waren nur Fundamente dieser Stadt zu sehen).

Die Bewohner des Dorfes Belowesch setzten sich zur Hälfte aus Deutschen und Ukrainern zusammen. Die deutschen Kolonisten waren dort zur Hälfte katholisch und evangelisch. Bei der Anlage der übrigen Dörfer wurde Rücksicht auf die Konfession der Familien genommen. In allen deutschen Ansiedlungsgebieten wurden Familien entsprechend ihrer Konfession angesiedelt. In diesem Fall wurden die Familien katholischer Konfession Groß- und Kleinwerder verteilt und die Familien evangelischen Glaubens auf die übrigen vier Dörfer.

Weil das Land für den zahlreichen Nachwuchs nicht reichte, zogen 122 Familien um das Jahr 1831 an das Asowsche Meer in die Gegend um Mariupol weiter. (agof.de) Dort gründeten sie Tochterkolonien, die auch als Planer oder Grunau-Kolonien bekannt sind. Die Namen der neuen Dörfer in den Tochterkolonien entsprach dem Dorfnamen aus deren Mutterkolonie, aus dem sie stammen. Andere Dörfer in der Kolonie mögen auch Neusiedlungen gewesen sein. Später siedelten auf den weiter auf die Krim, nach Kasachstan und im Jahr 1907 nach Kanada, Luseland (Saskatchewan).



Liste der Pioniersiedler

Die Neuankömmlinge, bei denen es sich größtenteils um arme Bauern handelte, ließen sich je nach Religionszugehörigkeit nieder. Die Lutheraner – Einwanderer aus der Umgebung von Frankfurt am Main sowie Deutsche aus den ungarischen und tschechischen Ländern – gründeten die Dörfer Rundewisen, Kalchinovka, Belovezh und Belovezhsky Gorodok. Katholiken – Einwanderer vor allem aus Preußen – siedelten sich in der Nähe an und gründeten die Dörfer Klein Werder und Groß Werder.

Belowesch

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Gorodok

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Rundewiese

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Groß-Werder & Klein-Werder

Ersten katholischen Siedlerfamilien, die 1766 von Oranienbaum nach Belowesch kamen:

Adam, Albert, Apfel, Arndt, Berg, Bisbaum, Bitner, Bormann, Braeuner/Breuner, Bruner/Brunner, Bumel/Bummel, Dietrich, Dresner, Franz, Grapowsky, Grischowsky, Haber, Hahn (Han/Hann), Helwig, Hering (Goering), Herr (Hercher), Hufnagel, Imgrant, Kauf, Lecher (Leher/Laeher), Makowsky, Markstaetter, Massold, Meiermann, Metzel, Peters, Reisch (Reusch), Resser, Retzel, Rindgel (Rindel), Roehrich, Sauerwald, Schaefer, Schreiber, Siegfried, Sperling, Steger, Stenzel, Trinz, Ulrich, Ums, Ungelbach, Vogt, Wagner, Weber, Weiss, Wenzel, Wilhelm.

Quelle: 1997/98 Heimatbuch, Landsmannschaft der Deutschen aus Russland

Kaltschinowka

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Kreschatten

Großwerder Kirche 1906 Provinz Tschernigow, Bezirk Borzen

Foto aus „Erinnerungen an die pastorale Arbeit in Großwerder 1905-1906“ von Pfarrer Friedrich Zchiscar


Im Jahr 1906 feierten Katholiken den Palmsonntag mit der Himmelfahrt, die den triumphalen Einzug Christi in Jerusalem symbolisiert, am 8. April (neuer Stil). An diesem Tag wurde in Werder nicht lautstark gefeiert und gefeiert, die Hausaufgaben wurden verschoben. Die Tradition der Weidenweihe entstand dadurch, dass sie in der Ukraine den Palmzweig ersetzte. Der Palmsonntag ist für Katholiken ein wichtiger Feiertag in der Woche vor Ostern.

Als Drehjahr wird das Jahr 1906 angegeben, Monat und Tag sind jedoch nicht bekannt. Rechts im Foto ist ein Kreuz aus Weidenzweigen zu sehen.
vor dem Haupteingang der römisch-katholischen Kirche Unserer Lieben Frau von Ruzhentseva (von der Seite des Friedhofs).
Es war verboten, warme Mahlzeiten zuzubereiten oder das Vieh auf die Weide zu bringen.

Originalfoto aus dem RGDA-Archiv

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Schulklasse mit Klassenlehrer Robert Müller in Großwerder 1937

Die aktive Verfolgung durch den NKWD begann in Groß- und Kleinwerder, vermutlich in den übrigen Dörfern ebenso, im Jahr 1937. Bis zum Kriegsende wurden aus Groß- und Kleinwerder mindestens 40 Menschen erschossen. Für die gesamte Kolonie gab Frieda Schlau die Zahl von 193 Verschleppten oder Erschossenen an. Darunter war auch der Dorflehrer Robert Müller, der sich für die Unterrichtung der deutschen Sprache einsetzte. Dieser wurde in der ersten Welle im Jahr 1937 verhaftet und vier Tage später in der Nähe von Tschernigow erschossen. Der Klassenlehrer Müller befand sich in der Mitte des Bildes, ist jedoch wegen bewusster Beschädigungen nicht erkennbar.

Quelle: REIT, Jakob: Groß und Klein Werder (die deutschen Siedlungen im Gebiet Tschernigow, Ukraine). Kassel 2002, S. 19.)

Einbringung der Weizenernte inder Kolchose „Freundschaft“ 1938

Quelle: REIT, Jakob: Groß und Klein Werder (die deutschen Siedlungen im Gebiet Tschernigow, Ukraine). Kassel 2002, S. 17.

Aus soziokultureller Sicht stellt sich die Frage, wer diese Menschen waren und was sie ausmachte. Die Kolonisten waren kein Typ der deutschen Nation. Sie entwickelten ihre Lebensformen und ihr Selbstverständnis unter den gegebenen Lebenseinflüssen. Somit wäre das Wort „Deutscher“ zu kurz gegriffen und vereinfacht diesen komplexen Sachverhalt. Die deutschen Kolonien waren in der Fremdwahrnehmung mit der Eigenschaft der Andersartigkeit beschrieben worden. Sie hoben sich alleine schon im äußeren Erscheinungsbild von ihren ukrainischen und russischen Nachbarn erkennbar ab. Die Kolonisten würden sich anders benehmen. Ihr Verhalten wurde als erkennbar unterschiedlich von dem der russischen und ukrainischen Bauern beschrieben. Russische Durchreisende erzählten von „deutscher Ordnung“ und Sauberkeit und beschrieben die Kolonisten als „fleißiger und nüchterner als ihre Nachbarn.“ Diese Zuschreibungen spiegelten sich auch in der Selbstbeschreibung der Kolonisten wider.

Quelle: NEUTATZ, Dietmar: Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs im Vergleich, in: Victor Herdt und Dietmar Neutatz (Hrsg,): Gemeinsam getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten Zarenreichs in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga, Wiesbaden 2010, S. 8.

„Diese immerwährende fleißige Thätigkeit, verbunden mit Nüchternheit und Sparsamkeit, ist es auch, was ihn vorteilhaft von seinen ewig ‚vodki‘ trinkenden Nachbarn, den Kleinrussen, unterscheidet und ihm denselben gegenüber ein wirthschaftliches Übergewicht verschafft. Nicht seinen gewesenen, vielumstrittenen Privilegien hat der Deutsche seinen Wohlstand zu verdanken, sondern, wie gesagt, seinem eisernen Fleiß, seiner Nüchternheit und Sparsamkeit.“

Odessaer Zeitung

vom 11.02.1890, Nr. 33, S. 2

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